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Heinrich Blumenthal - Fabrikant und Stadtentwickler

  1. Heinrich Blumenthal - ein moderner Unternehmer
  2. Eine Dampfmaschine für die „Maschienen“- Produktion
  3. Entwicklung eines neuen Stadtviertels







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Grundriß und Aufriß (Ansicht) vom geplanten Maschinenhaus der Blumenthal’schen Maschinenfabrik - (Abb.: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt - G 15 Darmstadt V 130)




Seitenanfang1. Heinrich Blumenthal - ein moderner Unternehmer

Heinrich Blumenthal (1824-1901) war Sohn des jüdischen Kaufmanns Bernhard Blumenthal, der 1821 einen Laden für Textilien am Ludwigsplatz in Darmstadt eröffnet hatte. Heinrich Blumenthal, der wohl auch im Ausland gelernt hatte, führte die Berufsbezeichnung „Mechanicus“ und richtete sich 1846 im väterlichen Haus eine Werkstatt ein, die er 1857 zusammen mit seinem Bruder Siegmund als Fabrik ausbaute. 1860 nannten sich die Brüder bereits „Maschinenfabrikanten“, 1862/63 verlegten sie Wohn- und Produktionsstätte an die Promenaden- (später: Bismarck)straße, 1864 wurde am Landwehrweg eine Maschinenhalle erbaut. Bis in die neunziger Jahre war die Blumenthal‘sche Maschinenfabrik einer der größeren Industriebetriebe Darmstadts, der offenbar vor allem „Lokomobile“ herstellte, also fahrbare Dampfmaschinen, die z. B. in der Landwirtschaft zum Dreschen eingesetzt wurden.

Die enge Verbindung zwischen technischer Innovation, wirtschaftlichem Interesse und politischem Handeln zeigt sich in Blumenthals sehr vielfältigem Engagement. Nicht nur war er langjähriges Mitglied der Handelskammer (1873 - 1884) und zugleich Vertreter in der Stadtverordnetenversammlung, sondern außerdem noch sozial tätig. Die Zeitungsmeldungen zu seinem Tod 1901 dokumentieren auch die Integration des jüdischen Bürgertums in die städtische Gesellschaft. Oberbürgermeister Adolf Morneweg sprach den Dank der Stadt aus und der Kriegerverein geleitete den Verstorbenen, der im deutsch-französischen Krieg 1870-71 sich um die Pflege der Verwundeten und Kranken verdient gemacht hatte, mit Militärkapelle zum Friedhof. Diese öffentlichen Ehrungen eines jüdischen Bürgers vollzogen sich zur gleichen Zeit, in der 23,5% der Darmstädter Bürger einen antisemitischen Abgeordneten in den Reichstag wählten (1898) und die in Darmstadt gedruckte antisemitische Zeitung „Hessische Reform“ (1894-1904) die „Aufhebung der Juden-Emanzipation“ forderte.






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Antrag Heinrich Blumenthals bei der Großherzoglichen Bürgermeisterei Darmstadt vom 13.Mai 1850 -
(Abb.: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt - G 15 Darmstadt V 130)



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Bericht des Stadtbaumeisters J. Jordan vom 16. Mai 1850 - (Abb.: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt - G 15 Darmstadt V 130)

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Baugenehmigung für Heinrich Blumenthal durch das Großherzogliche Ministerium des Inneren vom 10. Juni - (Abb.: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt - G 15 Darmstadt V 130)




Seitenanfang2. Eine Dampfmaschine für die „Maschienen“- Produktion

Am 13. Mai 1850 beantragte Heinrich Blumenthal bei der Großherzoglichen Bürgermeisterei Darmstadt „im Hinterhaus seiner Behausung eine Dampfmaschine nebst hierzu gehöriger Feuerungsanlage aufstellen zu dürfen“. Bürgermeister Kahlert äußerte Bedenken wegen der Nähe des Blumenthal’schen Hauses am Ludwigsplatz zur Stadtkirche wie zur „städtischen Schulanstalt“ und zwar sowohl wegen möglicher Gefahren, vor allem deswegen „ob durch die Thätigkeit der Maschine nicht ein solches Geräusch veranlaßt wird, das geeignet ist, sowohl die Kirche und die Schule als auch die Bewohner der Umgebung in hohem Grade zu stören.“ (24. Mai 1850) Stadtbaumeister J. Jordan - der von den dreißiger Jahren bis 1842 selbst eine Maschinenfabrik betrieb - hat keine grundsätzlichen Einwände, schreibt allerdings bestimmte Sicherheitsvorkehrungen vor: so soll das Kesselhaus ummauert sein und der Schornstein soll die umgebenden Gebäude so hoch überragen, daß sie gegen Feuersgefahr gesichert sind. (16. Mai 1850) In Darmstadt gab es 1850 noch weniger als ein halbes Dutzend Dampfmaschinen - die erste wurde 1831/32 in der staatlichen Münze aufgestellt, eine weitere 1843 bei der Firma Merck. Doch zeichnete sich eine Zunahme ab (1854 sind schon sieben Dampfmaschinen nachgewiesen), so daß das Großherzogliche Ministerium des Innern in seiner am 10. Juni für Blumenthal erteilten Baugenehmigung für die Zukunft „allgemeine Vorschriften“ ankündigte.

Für den Augenblick verlangte es von Blumenthal, folgendes „baldigst“ vorzulegen:


„1. Eine genaue Beschreibung nebst Zeichnung der Dampfmaschine und des Locals, worin dieselbe aufgestellt werden soll,

2. eine bestimmte Erklärung, auf welche Weise die Maschine zum Betriebe des Geschäfts gebraucht werden soll, und

3. einen Situationsbericht, welcher sowohl die Blumenthal’sche Hofraithe wie deren Umgebung mit genauer Angabe der Entfernung der Maschine von den umliegenden Gebäuden, namentlich auch der Stadtkirche und der Stadtschule, enthält.“



Schon am 15. Juni kommt Blumenthal dieser Aufforderung nach und schreibt dabei „ad 2) Dieses Dampfmaschienchen soll dazu dienen, die zum Betriebe meines Geschäftes nötigen Maschienen, als 6 Drehbänke, eine Bohrmaschiene und 2 Schleifsteine in Bewegung zu setzen (Taglöhner, welche seither diese mühevolle anstrengende Arbeit verrichten, werden krank, bekommen Blutspeien etc.) vermittelst welcher Maschienen ich industrielle und landwirtschaftliche Maschienen erzeuge.“


Er fügte hinzu:

„Ich bemerke nun vorsorglich der Unterstellung der Feuersgefährlichkeit dieser Anlage, daß die Feuerung einer 1 bis 2 pferdkräftigen Dampfmaschiene nicht größer und gefährlicher ist als die eines Bierbrauers, Brenners, Seifensieders etc. während man diese Gewerbe hier und überall in den engsten, bewohntesten und ältesten Stadttheilen findet, ferner daß man in den meisten Städten Deutschlands und Europas Dampfmaschienen von 10 bis 12 Pferdekräften findet, ferner daß man in Paris (ich bemerke dieses weil, wie mir bekannt, man sich im Großherzogthum Hessen, besonders an die französischen Ordnungen betreffes der Dampfmaschienen hält) 2 und 3 pferdkräftige Dampfmaschienen in 5 bis 6stöckigen Wohngebäuden findet, wie man dieses in den volksreichsten Straßen Rue St. Denis, Rue St. Martin auf den Boulevards etc. vielfach sehen kann. Außerdem mache ich ein hohes Ministerium des Innern auf das erst kürzlich erlassene Gutachten des Großh. Hess. Gewerbevereins aufmerksam, welches Gebäude, in welchen Dampfmaschienenanlagen sind, nicht einmal zu den feuersgefährlicheren rechnet (es war dieses behufs einer höher veranlagten Brandsteuer).“
(Zitate aus: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt G 15 Darmstadt V 130)


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Ansicht des 'Louvre'
(Abb.: Stadtarchiv Darmstadt)





Seitenanfang3. Entwicklung eines neuen Stadtviertels

Am 18. November 1871 genehmigte Großherzog Ludwig III. den „Plan über die Erweiterung der Stadt Darmstadt nach der Nord-West-Seite nach dem Projekt Blumenthal & Cie“. Damit gab er zum ersten Mal einer privaten Kapital-Gesellschaft Vollmacht, Stadtentwicklung in Darmstadt zu betreiben. In einem Gebiet, das überwiegend aus Äckern und Wiesen bestand, in denen hier und da von Hofbaumeister Georg Moller errichtete großbürgerliche Landhäuser aus der ersten Erweiterungsphase der Stadt nach 1815 sich verloren, wurden in großem Maß relativ billige Grundstücke von Bauern aufgekauft und dann mit Gewinn an Bauunternehmer weiterverkauft. Die Blumenthalsche Gesellschaft erwarb so Anfang der 70er Jahre den größten Teil des Geländes nord-westlich der beiden Darmstädter Bahnhöfe und bereitete seine Erschließung durch den Bau von Straßen und die Einrichtung der Straßenbeleuchtung vor (diese Kosten wurden nach 1875 von der Stadt übernommen). Bis 1875 funktionierte das Geschäft auch den Erwartungen entsprechend; die zu einem Preis von ca. 4,50 Mark pro qm gekauften Grundstücke konnten für Preise zwischen 13 und 21 Mark an Bauwillige veräußert werden. Dann setzte in der Gründerkrise ein Preisverfall und schließlich ein völliges Erlahmen der Bautätigkeit ein. Jetzt zeigte es sich, daß die Gesellschaft klug und vorsichtig gegründet worden war: im Aufsichtsrat saßen neben dem Maschinenfabrikanten Heinrich Blumenthal (zugleich Stadtverordneter und Vorsitzender der israelitischen Religionsgemeinde) noch Bankdirektor August Parcus von der Süddeutschen Bank, der Weinhändler Franz Weber, Präsident der Darmstädter Handelskammer und später sein Nachfolger Theodor Wendelstadt, Direktor der Bank für Handel und Industrie; die Süddeutsche Immobiliengesellschaft, vertreten durch den Mainzer Bürgermeister Carl Racké, war finanziell beteiligt. Dank dieser soliden Absicherung konnte die Gesellschaft die flauen Geschäftsjahre nach 1875 mit mäßigen Verlusten überstehen, bis dann Ende der 80er Jahre die Konjunktur wieder anzog und die Bautätigkeit zunahm. Ende der 90er Jahre wurden die letzten Baulücken im Nordteil des Viertels geschlossen, nachdem dieser durch die elektrische Straßenbahn attraktiver geworden war.

Die Bebauung, vom zurückhaltend klassizistischen bis zum pompösen neugotischen oder neubarocken Stil des Jahrhundertendes wechselnd, kannte großstädtische, rein „steinerne“ wie auch durch Vorgärten aufgelockerte Fassaden. Sozial war das neue Viertel vor allem im Südteil zunächst homogen großbürgerlich, mit starken Anteilen adliger und jüdischer Bewohner. In der Krise der 80er Jahre wanderten mittlere und kleine Angestellte, seit dem Bau des Hauptbahnhofs auch Facharbeiter zu, so daß in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die Wohnbevölkerung sich zu eher kleinbürgerlichem Zuschnitt gewandelt hatte.


Für die Absichten der Gründungsgesellschaft spricht der Bau des „Louvre“, eines der wenigen Häuser, die durch die Gesellschaft selbst errichtet wurde. Hier zogen Oberbürgermeister Ohly und der Fabrikant Blumenthal selbst ein. Die im Blumenthalschen Bebauungsplan nicht vorgesehenen öffentlichen Gebäude wurden vielfach auf Plätzen ehemaliger, durch die Wohnbebauung allmählich verdrängter Fabriken errichtet. Die städtische Mädchen-Mittelschule (jetzt: Goetheschule) erbaute man 1887 auf dem Grundstücke der Mahr’schen Dampfschneidemühle; die Johanneskirche 1893/94 (zunächst auf dem Gelände der Maschinenfabrik Gebr. Buschbaum geplant) wurde dann auf dem Wilhelminenplatz errichtet; als die Gasfabrik verlegt wurde, baute man 1888/89 dort das neue Gymnasium, das 1909-1911 durch Eleonoren- und Oberreal(=Liebig-)schule ersetzt wurde; die Diesterwegschule war schon 1901/2 auf dem Gelände der jetzigen Schulinsel errichtet worden.

Hieß das neue Stadtviertel zunächst nach dem Initiator des Erbauungsplans „Blumenthalviertel“, so wurde es nach dem Bau der Johanneskirche „Johannesviertel“ genannt. An den Gründer erinnerte nur noch die „Blumenthalstraße“, die unter der NS-Diktatur - wie alle „noch nach Juden benannten“ Straßen - umbenannt wurde, und zwar in „Taunusring“. Aus diesem wurde 1953 die Kasinostraße.