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Industrialisierung im Großherzogtum Hessen

Die Geschwindigkeit, mit der sich vor über 100 Jahren der Prozess der Modernisierung auch im Großherzogtum Hessen vollzog, muss für die Zeitgenossen enorm und verwirrend gewesen sein. Wissenschaftlich ausgebildete Erfinder standen handwerklich geprägten Arbeitern gegenüber; Gas und Elektrizität erhellten Luxuswohnungen, während Streiks und Entlassungen die unsichere Realität vieler Arbeitskräfte prägten. Die Modernisierung der städtischen Infrastruktur durch Straßenbahn, Telegrafen und Telefon war die eine Seite, das Zurückbleiben des noch ländlichen Odenwalds die andere.

  1. Voraussetzungen der Industrialisierung
  2. Die treibenden Kräfte: Entwicklung der Energieversorgung
  3. Die tragenden Kräfte: Fabrikanten, Unternehmer, Arbeiter und Angestellte






Seitenanfang1. Voraussetzungen der Industrialisierung

Zu den wesentlichen Voraussetzungen gehörte die Einführung der Gewerbefreiheit, die von der Regierung gegen starke Widerstände aus dem Handwerk sukzessive von 1821 bis 1866 durchgesetzt wurde. Staatliche Unterstützungsmaßnahmen waren die Errichtung von (heute: Industrie- und) Handelskammern (1821 in Offenbach, 1862 in Darmstadt), die zur Förderung von Handel und Fabriken die Interessen der Kaufleute und Gewerbetreibenden wahrnehmen und über die wirtschaftliche Entwicklung jährliche Berichte vorzulegen hatten. Die Umstrukturierung des Handwerks von den Zunfttraditionen weg zur Anwendung moderner Produktionsmethoden mit maschineller Unterstützung sollte durch den 1836 gegründeten Gewerbeverein gefördert werden. In dem seit 1849 erscheinenden "Gewerbeblatt" wurde über Erfindungen, neue Maschinen und Techniken berichtet. Durch eine Bibliothek, eine "Vorbildersammlung" technischer Musterzeichnungen und häufige Ausstellungen von neuen Produkten sollte die Konkurrenzfähigkeit der Handwerker und ihre Innovationskraft angeregt werden. All diese Maßnahmen zur Stärkung des "Humankapitals" wurden begeleitet durch die flächendeckende Einrichtung von Handwerkerschulen, die durch eine 1836 gegründete "Höhere Gewerbeschule" ergänzt wurde, aus der 1877 die Technische Hochschule Darmstadt hervorging.

Der Eintritt in den Deutschen Zollverein (1834), dem Hessen-Darmstadt schon durch einen Zollverein mit Preußen 1828 vorgearbeitet hatte, sowie der Ausbau der Straßen auch im Odenwald, vor allem aber der rasche Bau von Eisenbahnlinien (1846: Main-Neckar-Bahn; 1858: Ludwigsbahn nach Mainz und Aschaffenburg), schufen die nötige Anbindung an Rohstoff- Ressourcen und Kunden. Dominierte zunächst der Maschinenbau, so wurde er um die Jahrhundertwende von Möbel-, Papier- und Chemieindustrie als führenden Branchen abgelöst. Zentren der industrielle Entwicklung waren: Offenbach (Lederwaren, Tabak, Maschinenbau), Mainz (Metallgewerbe), Gustavsburg (Maschinenbau), Hanau (Textilgewerbe), Darmstadt (Maschinenbau, pharmazeutische Fabrik Merck). Dazu kam Rüsselsheim, wo die Firma Adam Opel nach Nähmaschinen (1862) und Fahrrädern (1866) seit 1898 auch Automobile herstellte. Industriell unterentwickelt und auch sozial rückständig blieben Oberhessen und der Odenwald, doch kamen von dort die Arbeitskräfte in die Fabriken (natürlich auch nach Frankfurt und Wiesbaden) sowie zu den Pflasterer- und Maurerarbeiten, mit denen die Städte vergrößert wurden.





Seitenanfang2. Die treibenden Kräfte: Entwicklung der Energieversorgung

Zahl der Dampfmaschinen im Großherzogtum
1849 33
1854 83
1862 280
1879 943
1892 1.404
1907 2.969



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Dampfstraßenbahn am Luisenplatz, 1899


Zahl der Telefonanschlüsse in Darmstadt
1886 48
1892 152
1895 277
1899 591
1900 777
1907 2.457


Am Anfang dominierte die Dampfenergie, seit dem Jahrhundertende setzte sich dann die Elektrizität zunehmend durch, wie diese Aufstellung andeutet. Zumindest galt das für innerstädtische Verkehrsmittel, Innenraum-Beleuchtung und die revolutionären neuen Entwicklungen in der Kommunikationstechnik. Das seit 1853 ausgebaute Gasrohrnetz versorgte bald nur noch die Straßenbeleuchtung bzw. stellte die Energie zum Kochen und Heizen in städtischen Haushalten. Auch auf dem Land musste die - ohnehin nur in wenigen Gemeinden begonnene - Gasversorgung bald der Elektrifizierung weichen. Zur Stromversorgung hatten zwar einige größere Gemeinden (Pfungstadt, Ober-Ramstadt) den Bau von Elektrizitätskraftwerken begonnen, doch erwiesen sie sich zur flächendeckenden Versorgung als technisch untauglich und konnten mit den preiswerteren Angeboten der 1912 in Darmstadt gegründeten HEAG nicht konkurrieren. In den folgenden Jahren wurden dann erst von Darmstadt aus, aber schließlich durch Anschluss an fremde Netze die Gemeinden der Provinz Starkenburg bis in den Odenwald (z.B. Lindenfels 1914) allmählich an die Elektrizitätsversorgung angeschlossen.




Seitenanfang3. Die tragenden Kräfte: Fabrikanten, Unternehmer, Arbeiter und Angestellte

Der Industrialisierungsprozess bedeutete für viele Menschen einen völligen Wandel der Lebensumstände. Insbesondere die in die städtischen Arbeitsorte ziehende Landbevölkerung musste eine totale berufliche und familiäre Neuorientierung durchleben. Fabrikinterne Arbeitsordnungen strukturierten und disziplinierten den Arbeitsalltag teilweise minutengenau. Völlig revolutionär war es, dass sich der Anteil der Frauen am Erwerbsleben zwischen 1882 und 1907 verdoppelte (Industriearbeiter) bzw. verdreifachte (Handel und Gewerbe).

Generell kann man sagen, dass Arbeiter aus Handwerkerfamilien und der ländlichen Bevölkerung kamen, während Fabrikanten und Unternehmer doch eher dem städtischen Bürgertum (Kaufleute, Apotheker, Beamte) entstammten. Die andere Seite des Fortschritts betraf neben der überlangen Arbeitszeit (der seit 1873 nur noch zwölfstündige Arbeitstag war um 1900 in manchen Betrieben schon auf 10 Stunden gemindert worden) die oft desolate Wohnsituation gerade der unteren Schichten. Trotz solcher Einrichtungen wie des erfolgreichen "Bauvereins für Arbeiterwohnungen" gab es in etwa einem Drittel der Darmstädter Wohnungen um die Jahrhundertwende sog. "Schlafstellen", also Räume oder (oft) nur Betten, die an "Schlafburschen" vermietet wurden. (In den Zwei-Zimmer-Wohnungen des Bauvereins lebten oft Familien bis zu acht Personen.) Auch die Eindämmung der Kinderarbeit musste sowohl gegen die Arbeitgeber wie gegen den Willen der Betroffenen, die oft Notwendiges zum kärglichen Lebensunterhalt der Familie beizutragen hatten, durchgesetzt werden. Kinder unter 14 Jahren durften seit 1891 nicht länger als 6 Stunden täglich arbeiten, zwischen 14 und 16 Jahren nicht mehr als 10 Stunden täglich. Dass die großherzogliche Gewerbeinspektion Hunderte von Verstößen jährlich gegen diese Gesetzesvorschriften meldete, spricht eine eigene Sprache. Durch Verhandlungen und Streiks versuchte die sozialdemokratische Arbeiterbewegung diese Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern.








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