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Arbeiter der Veithwerke 1912Arbeiter bei den Veithwerken
(Foto: Hess. Wirtschaftsarchiv)












































Briefkopf der Veithwerke 1912Briefkopf der Veithwerke
(Abb.: STAD G 15 Erbach V 585)





















Der Streik bei den Veith-Werken in Sandbach/Odenwald 1912

  1. Arbeiterbewegung und Streiks im Deutschen Kaiserreich
  2. Arbeitskämpfe im Großherzogtum Hessen
  3. Die Veithwerke in Sandbach im Odenwald




Seitenanfang1. Arbeiterbewegung und Streiks im Deutschen Kaiserreich

Auseinandersetzungen über Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen wurden im Deutschen Reich 1871 bis 1918 von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die sich noch nicht als "Tarifpartner" verstanden, oft sehr heftig geführt. 1869 wurde mehr als 250 Mal gestreikt, bis 1874 über tausend Mal. Die Streikhäufigkeit nahm mit der Hochkonjunktur seit Mitte der 90er Jahre rapide zu. 1903 wurde im Reich zum ersten Mal die Zahl von 1.000 Streiks überschritten; seit 1910 waren über 2.000 Streiks jährlich die Regel. 1912 streikten 397.000 Arbeiter im Deutschen Reich. Die Arbeitgeber wehrten sich damit, dass sie die Arbeiter aussperrten, und zwar nicht nur in dem bestreikten, sondern auch in anderen Betrieben der gleichen Branche. Als Ersatz wurden andere Arbeiter eingestellt. Diese Praxis erklärt auch die auffällig häufigen, manchmal jährlichen Umzüge von Arbeiterfamilien.

Eine zentrale Forderung der Streikenden war stets die Kürzung der Arbeitszeit. Hatte um 1850 die generelle Arbeitszeit zwischen 14 und 17 Stunden gelegen, war sie 1873 auf 12 Stunden vermindert worden. Seit 1900 gelang es, sie durch Streiks und Verhandlungen auf 10 Stunden herabzusetzen, in Einzelfällen sogar auf 9. Diese Erfolge waren nur möglich durch den zunehmenden Einsatz von Maschinen.

Die heftigste Auseinandersetzung der Vorkriegszeit war die um den Bauarbeitertarifvertrag 1910. Weil die Gewerkschaften nur ortsweise Tarifverträge abschließen wollten, sperrten die Arbeitgeber im ganzen Deutschen Reich nahezu 200.000 Arbeiter aus (in Darmstadt waren es 568 in 73 Betrieben). Nach 11 Wochen wurde ein reichsweit geltender Tarifvertrag (der zweite nach dem für die Buchdrucker von 1873) abgeschlossen, der Lohnerhöhungen von 5 - 8 Pfg. pro Stunde (auf drei Jahre) und eine Arbeitszeit zwischen 9 ½ und 10 Stunden festschrieb.

Die in den 60er und 70er Jahren vielfach aus dem Boden geschossenen Gewerkvereine und Gewerkschaften büßten durch das Sozialistengesetz nach 1878 zwar viele Mitglieder ein, doch insgesamt erreichten die bismarckschen Repressionen das Gegenteil: Der Zusammenhalt unter den Arbeitern verstärkte sich, seit Mitte der 80er Jahre nahm die Mitgliederstärke sprunghaft zu. 1890 waren es 300.000, 1913 2,5 Millionen und damit waren 36% aller Industriearbeiter im Deutschen Reich gewerkschaftlich organisiert.

Trotz dieser großen Verbreitung - genauer gesagt: gerade wegen dieses zunehmenden Erfolges - grenzten die politisch bestimmenden Eliten in Beamtenschaft, Justiz und Militär die Anhänger der sozialdemokratischen Partei bzw. der Gewerkschaften aber gesellschaftlich aus. Sie wurden - auch nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 - als Staatsfeinde betrachtet. Kein Sozialdemokrat konnte Lehrer, Professor oder Richter werden. Die seit 1893 im Hessischen Landtag vertretenen sozialdemokratischen Abgeordneten galten als "nicht gesellschaftsfähig". Kritische Äußerungen in der sozialdemokratischen Presse führten zu Haftstrafen für die Redakteure, wie sie z. B. noch 1903 der spätere hessische Staatspräsident Bernhard Adelung in Butzbach antreten musste. Die Parteiversammlungen standen unter Polizeiüberwachung, Parteizugehörigkeit von Wehrpflichtigen musste ("Vertraulich!") von den Gemeinden gemeldet werden.






Seitenanfang2. Arbeitskämpfe im Großherzogtum Hessen

Seit 1909 wurde im Großherzogtum eine Streikstatistik geführt. Sie verzeichnete 1911 47 Streiks, von denen drei mit Aussperrungen verbunden waren; 1912 waren es 34 Streiks und 10 Aussperrungen, 1913 43 Streiks und 6 Aussperrungen. Zentren waren Offenbach, Mainz und Darmstadt. Zwar dauerten die meisten Arbeitsniederlegungen nur wenige Tage, doch war eine Streikdauer von 30, 40, aber auch von 90, 100 ja bis zu 200 Tagen möglich. (So streikten die Formstecher in Gießen 1910/11 277 Tage; bei der Herdfabrik in Darmstadt streikten 1913 43 Arbeiter 90 Tage lang; 192 Darmstädter Weißbinder streikten 76 Tage.) Als im März und April 1912 24 Schneider in Darmstadt streikten, wurden 200 Personen in 46 Betrieben ausgesperrt; im Mai standen 24 streikenden Metallarbeitern in 7 Betrieben 630 Ausgesperrte in anderen Betrieben gegenüber.

Die Gewerkschaften verbreiteten sich von den städtischen Zentren aufs Land. Seit 1878 bestand in der Residenz- und Hauptstadt Darmstadt eine Metallarbeiter-Gewerkschaft, in den 80er Jahren folgten Zusammenschlüsse der Schreiner und Lithographen, nach 1890 dann Bildhauer, Maler und Weißbinder, Maurer, Transportarbeiter. 1900 hatte das Darmstädter Gewerkschaftskartell 1.239, 1914 dann 3.605 Mitglieder. Im hoch industrialisierten Kreis Offenbach gab es im Jahr 1907 16.278 Gewerkschaftsmitglieder, im Kreis Darmstadt 6.346 Mitglieder, im Kreis Dieburg 1.571, aber im wenig industriegeprägten Kreis Erbach (zu dem Sandbach mit den Veithwerken gehörte) waren es nur 639.

In einer Vielzahl von Vereinen baute die Arbeiterschaft eine Art Gegen-Gesellschaft zur Wilhelminischen Bürgergesellschaft auf. In Darmstadt wurde 1899 ein Arbeiter-Sekretariat für Beratung in Rechtsfragen (übrigens auch für nicht organisierte Arbeiter), 1900 eine Konsumgenossenschaft gegründet. In vielem waren diese Organisationen der Arbeiterkultur geradezu Spiegelbild der entsprechenden bürgerlichen Vereine. Ausgangspunkt war oft ein sehr früh gegründeter "Arbeiterbildungsverein" (in Darmstadt 1863 und, nicht untypisch, durch bürgerliche Initiatoren, darunter Ludwig Büchner). Lese-, Gesangs- und Turnvereine bildeten dann oft die Tarnung, unter der die Selbstorganisation der Arbeiter auch die Verbotszeit des Sozialistengesetzes überstehen konnten. Eine massenhafte und in reichsweiten Zentralorganisationen zusammengefasste Gründungswelle setzte dann wieder nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 ein mit Arbeitersport- und -sängervereinen, dem Naturfreunde-, dem Arbeiter-Samariter-Bund und vielen anderen. Seit 1907 erschien dann auch in Darmstadt der "Hessische Volksfreund" als Zeitung der Sozialdemokratischen Partei.







Seitenanfang3. Die Veithwerke in Sandbach im Odenwald

Die Veithwerke waren 1903 am Standort einer ehemaligen Ölmühle in Sandbach im Mümlingtal gegründet worden. Der Ingenieur Friedrich Veith (1860 - 1908) kann als typischer "Erfinder-Unternehmer" dieser rasanten Modernisierungsepoche gelten. Die Fahrrad-, aber vor allem die expandierende Autoproduktion litten noch unter der recht mangelhaften Bereifung. 1897 erfand Friedrich Veith das erste Luftreifen-Profil, das er dann zum "Radial-Reifen" weiter entwickelte. Damit wurde die Lebensdauer von Reifen erheblich verlängert - statt 2-3.000 konnten nun bis zu 10.000 km gefahren werden - und auch der Benzinverbrauch wurde erheblich gesenkt. Es gelang Veith, das Interesse des autobegeisterten Prinzen Heinrich von Preussen, des Bruders von Kaiser Wilhelm II. zu wecken. Ebenso konnte er bei einem Kaisermanöver die Militärs von der Einsatzfähigkeit seiner Reifen überzeugen und Großbestellungen der Armee erreichen. Das Unternehmen florierte auch nach dem frühen Tod des Gründers 1908 weiter.

Der konservative Fabrikant Veith hatte sich einer um Patente prozessierenden Konkurrenz zu erwehren. Er legte größten Wert auf präzise Produktion, das Anlernen, Beaufsichtigen und Schulen der Arbeiter. Arbeitskonflikte, deren Ursache aus einem Bericht des "Hessischen Volksfreundes" vom 1. April 1911 (Dokument 1) hervorgeht, blieben nicht aus. Die Werksleitung reagierte mit der üblichen Härte. Schon 1910 hatten in den Veithwerken 9 Arbeiter drei Tage gestreikt, dafür wurden 130 Arbeiter ausgesperrt. Die Statistik verzeichnet für 1912 von Juni bis August 74 Streikende und 108 Ausgesperrte.

Die Berichte der Polizei und des sozialdemokratischen "Hessischen Volksfreund" geben einen Eindruck von der Unversöhnlichkeit, mit der sich Werksleitung und Arbeiter gegenüberstanden.









SeitenanfangDokumentenliste


I. Arbeitsordnung der Veithwerke AG; Sandbach bei Höchst i.O., 1912


II. Die Berichte der örtlichen Polizei

  • Dokument 1
    Gendarmerie-Station Höchst, 12 Juni 1912:
    Bericht über den Ausbruch eines Streiks in der Fabrik Veithwerke zu Sandbach

  • Dokument 2
    Gendarmerie-Station Höchst, 19. Juni 1912:
    Betreffend: Streik in den Veithwerken in Sandbach

  • Dokument 3
    Gendarmerie-Station Höchst, 20 Juni 1912:
    Über die gegenwärtige Streiklage in der Fabrik Veithwerke zu Sandbach

  • Dokument 4
    Gendarmerie-Station Höchst, 8. Juli 1912:
    Streikposten und Revolverschüsse

  • Dokument 5
    Gendarmerie-Station Höchst, 11 Juli 1912:
    Meldung: Suche nach den Tätern


III. Berichte der sozialdemokratischen Presse
  • Dokument 1
    Hessischer Volksfreund, 1. April 1911:
    Die Zustände in der Gummifabrik

  • Dokument 2
    Hessischer Volksfreund, 7. Juni 1912:
    Streik in den Veithwerken

  • Dokument 3
    Hessischer Volksfreund, 8. Juni 1912:
    Suche nach Streikbrechern für die Veithwerke

  • Dokument 4
    Hessischer Volksfreund, 19. Juni 1912:
    Fortdauer des Streiks

  • Dokument 5
    Hessischer Volksfreund, 22. Juni 1912:
    Arbeitskonflikte und Streik bei den Veithwerken